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Ilse Weber´s Stimme in der Görlitzer Synagoge

Aktualisiert: 27. Okt.

"Wann wohl das Leid ein Ende hat...?" Lesung und Konzert im Rahmen der Jüdischen Kulturtage Görlitz am Donnerstag, 23. Oktober 2025, in der Görlitzer Synagoge. Eine Erzählung.

Wir verließen die Synagoge an diesem Abend berührt, als hätten wir einer Tora-Lesung mit Drasha beigewohnt, die unsere Seelen um eine weitere Lektion in Menschlichkeit bereichert hat. Doch war es keine Tora-Lesung mit Psalmen sondern eine Lesung von Poesien der jüdischen Dichterin Ilse Weber, die traurigerweise nicht für ihre wunderbare Kunst sondern für ihr tragisches Schicksal als Opfer der Shoah in ewige Erinnerung blieb. Neben den Gedichten wurden ihr Leben und Werk vorgestellt, eingerahmt von einer kleinen Auswahl der Lieder, die sie für die Kinder in Theresienstadt schrieb. Es war als würde der Geist des jüdischen Gottes und die Psalmen Davids noch einmal in diesem Saal wehen, wie vor 100 Jahren so oft.


Das wunderschön renovierte und 2021 wiedereröffnete Kulturforum Görlitzer Synagoge war damals ein Gotteshaus der blühenden jüdischen Gemeinde von Görlitz. Sie hatte es sich um 1911 im neoklassizistischen und Jugendstil erbaut, bis sie im dunklen Pogromjahr 1938 das Haus, auch wenn es vor dem Feuer verschont blieb, für immer verliess. Der Nazionalsozialismus beendete das Leben der jüdischen Gemeinde in Görlitz für immer, aber der Geist des singenden David schien diesen Ort nie velassen zu haben. Und so wie sein Tempel in Jerusalem viele Male zerstört und wieder aufgebaut wurde, erlebte auch dieses beeindruckende Denkmal nach der Wende (1990) einen Wiederaufbau und wurde 2021 mit einem Gottesdienst nach 80 Jahren wiedereröffnet. Lassen wir noch kurz die Menschen erwähnen, die sich Verdienste um diese Wiederauferstehung des herrlichen Bauwerks erworben haben: Alex Jacobowitz, Musiker und Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Görlitz, ebenso wie der Förderverein der Görlitzer Synagoge und viele weitere Mitwirkende aus Dresden und Görlitz. Heute dient die Synagoge als Kulturforum für den interkulturellen Dialog, und das gelingt ihr hervorragend. Bis heute haben wir das Privileg gehabt, dort zutiefst bewegende Ereignisse mitzuerleben, die oft mit der dunklen Geschichte des Zweiten Weltkriegs verbunden sind, ein Licht der Hoffnung auf eine bessere Zukunft werfend.


Demut und geheimnisvolle Gefühle empfindet man unter der Löwenkuppel und beim Blick auf die archaischen Säulen links und rechts des nun leeren Toraschreins, unter der Inschrift aus Psalm 16: „שִׁוִּיתִי יְהוָה לְנֶגְדִּי תָמִיד“ („Ich habe Gott stets vor Augen“). Um 19:30 betrat dann Frank Harders-Wuthenow zu Beginn der Veranstaltung die Bühne-Altar und begann vom Podium Ilse Webers Geschichte vorzutragen, abwechselnd mit ihren Gedichten.


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Der Musikwissenschaftler und Komponist widmet sein Leben den Menschen, deren Stimmen in der Blüte ihres Lebens so zu Unrecht während der Ereignissen des Nazionalsozialismus für immer schwiegen. Seit 1990 erforscht er „unterdrückte“ Komponisten aus dem Kulturraum des heutigen Polens, Deutschlands und Tschechiens, insbesondere Komponisten aus Theresienstadt. Der Katalog des von ihm dafür gegründetes Label "EDA-records" umfasst mittlerweile die Namen von über 100 Komponisten, einen davon durften wir dieses Jahr wieder in der Synagoge mit ihm entdecken: Hans Wintenberg. Seine Auswahl der Interpreten und die Qualität der Aufnahmen sind tadellos. Er arbeitet mit großer Liebe und Sorgfalt an seiner Aufgabe. Ganz nebenbei, lohnt es sich zu erwähnen, dass im EDA-records erschien in diesem Jahr (2025) auch die erste Tonaufnahme der Quartette von Bolko von Hochberg. Seine nächste Ausgrabungen: die Komponistinnen Maria Herz und Julia Kerr. Frank Harders-Wurthenows Beitrag zur Verbreitung von vergessenem Wissen ist enorm. Respekt.


Ilse Weber, ist leider in der breiten Masse nicht so bekannt, wie sie es verdient hätte. In ihrem kurzen Leben hat sie so viel Licht in die Welt gebracht, glücklicherweise manifestierte sich dieses Licht auch in Musik, Poesie und Märchen, um für die kommende Generationen zu strahlen. Wie schön, dass diese Frau langsam wiederentdeckt wird, auch dank der Arbeit von Musikerinnen wie Anne Sophie von Otter, die 2007 „Songs from Terezin“ für die Deutsche Grammophon einspielte oder von Künstlerinnen wie den beiden Musikerinnen, die den Abend am Donnerstag gestalteten. Die polnische Pianistin Katarzyna Wasiak widmet sich seit Jahren vergessenen jüdischen Komponisten und Komponistinnen, insbesondere aus ihrer Heimat Polen. Ihre Aufnahmen mit Kammermusik von Szymon Laks, Hans Gál oder Mieczyław Weinberg begeisterten Kritiker und wurden mit Preisen ausgezeichnet. Sie arbeitet mit der Sopranistin Ania Vegry zusammen, die an diesem Abend die Lieder sang. Katarzyna ist übrigens auch eine wichtige Zusammenarbeiterin unseres Vereins. Im Pandemiejahr haben wir gemeinsam Lieder und Kammermusik von Anna Teichmüller aufgenommen, an der ich, sowie der Geiger und ihr Mann Leo Klemens beteiligt waren, und gemeinsam haben wir auch Lieder jüdischer Komponisten der 1920er Jahre aus Breslau in der Camaro-Stiftung in Berlin gesungen, wie etwa Edmund Nick und Harry Ralton. Sie tritt regelmäßig mit Ania Vegry auf, und ein Höhepunkt war ihr Beitrag zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus im Jahr 2022 im Deutschen Bundestag. Für EDA haben sie das Gesamtwerk des polnisch-jüdischen Komponisten Szymon Laks aufgenommen. Die Musikerinnen also, die Ilse Weber an diesem Abend in der Synagoge ehrten, waren absolute Spezialistinnen auf ihrem Gebiet.


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Ilse Webers wenige Fotografien zeigen eine schöne, lächelnde junge Frau mit leuchtenden melancholischen Augen. Die Geschichte dieser kleinen Heldin in Frank Harders-Wurthenows Erzählung klang wie ein trauriges Märchen von Hans Christian Andersen: das Mädchen, das auf seiner geliebten Gitarre in einem unmenschlichen Konzentrationslager Kinderlieder spielte, mit ihrer bezaubernden spirituellen Schönheit, ihrem tragischen Ende in Auschwitz und dem Wiedererwachen ihrer Poesie viele Jahre später. Ilse wurde 1903 in der Nähe von Ostrava geboren und spürte schon in jungen Jahren die Schläge des Schicksals. Sie begann früh, jüdische Märchen für Kinder zu schreiben, sie spielte viele Instrumente obwohl sie Musik nie professionell erlernte, aber genau diese Musik und Poesie waren ihre Berufung. Sie linderten später das Leid der Kinder in der Hölle des Konzentrationslagers Theresienstadt wo sie, Jüdin, als Krankenschwester tätig war und spendeten ihnen Trost. Das Leben war dort hart; Musik war anfangs sogar verboten, Lebensmittel waren knapp und es fehlte an grundlegenden Lebensbedingungen, doch sie bemühte sich, in diesem Dunkel einen Hauch von Schönheit zu schaffen. Wer weiß, wie viele Leben sie damit rettete, wie viel Kraft und Hoffnung sie diesen Kindern gab, bevor sie 1944 von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert und ermordet wurde. Rathenow erzählte auch, wie wundersam ihr Mann diese Gedichte und Lieder später rettete.


"Ich wandere durch Theresienstadt" war das erste Lied im musikalischen Teil des Abends. Es folgten Gedichten wie "Ein Koffer spricht" "Musica Prohibita", "Brief an mein Kind", "Eine Wiese auf der Bastei"....


Ilse Weber: Musica Prohibita

        

Ich wandere durch Theresienstadt,
 vorbei an dem strengen Gendarmen,
 die Laute, die man mir geliehen hat,
 wie ein Kind verpackt in den Armen.
 
Mein Herz schlägt schneller, die Wange brennt
 in des Gefürchteten Nähe.
 Es wäre geschehen um das Instrument
 wenn er es bei mir sähe...
 
Wir sind ja verurteilt an diesem Ort
 zu tiefster Verzweiflung und Schande,
 und die Instrumente nahm man uns fort
 als gefährliche Konterbande.
 
Wir dulden Hunger und Freiheitsraub
 und alles, womit sie uns quälen,
 doch richten sich immer empor aus dem Staub
 die niedergetretenen Seelen.
 
Wir dürfen, umgeben von Tod und von Grauen,
 den Glauben an uns nicht verlieren.
 Wir müssen der Freude Altäre bauen
 in den düsteren Massenquartieren.
 
Mit Dichterwort und ein wenig Musik
 wollen wir dem Elend entfliehen.
 Aus schlichten Liedern soll bißchen Glück
 und gütiges Vergessen erblühen.
 
Und wenn wieder einige sich gestehen,
 die nahe schon am Verzagen:
 »Es ist auf der Welt doch auch manchmal schön,
 nun können wir's wieder ertragen« —
 
dann fühlt man um sich so reiches Glück,
 daß man geholfen hat den Armen,
 und trägt furchtlos die Laute wieder zurück
 unter dem Blick des Gendarmen.

Die beiden Künstlerinnen spielten die schlichte Melodie zart und einfach, was dem hallenden Raum der Synagoge sehr gut tat. Es klangen noch Lieder wie "Denn alles wird gut", " Wiegenlied für Hanicka", "Ukolébavka" (Ilse sprach Tschechisch und Deutsch), "und der Regen rinnt", "Ade, Kamerad", "Dobry den/Guten Tag" und das Programm endete mit "Wiegala".

Die Künstlerinnen präsentierten diese Musik, die in ihrer Einfachheit und Schönheit an Schubert erinnerte, nicht nur mit herausragender Kunstfertigkeit, also Technik, Dynamik, Musikalität und Leidenschaft, und einem perfekten Zusammenspiel der beiden Instrumente. Sie entwickelten auch eine tiefe, einzigartige Interpretation, die diese Musik so lebendig und reichhaltig machte, wie man es sich bei so einfachen Liedern mit ihren sich wiederholenden Strophen kaum vorstellen konnte. Die Bearbeitung der Originallieder (Gitarre und Gesang) für das Klavier (von Wienfried Radeke) war wunderschön. Die beiden einfühlsamen Künstlerinnen, selbst Mütter, präsentierten alles wunderschön einfühlsam als würden sie an ihre eigene Kinder singen. Ania Vegrys schöne, sehr intelligent geführte Stimme mit dem intrigantem Timbre passte perfekt zu diesen schlichten Liedern. Mit Bescheidenheit gelang es der sonst bekannten Opernsängerin (Theater Bielefeld), zusammen mit Katarzyna Wasiak aus den kurzen Stücken kleine Juwelen zu zaubern. Ein weiteres Lob für ihre (für dieses Musikgenre so wichtig) ausgezeichnete Diktion.


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Mit dem letzten Lied, dem Wiegenlied „Wiegala“, sorgten sie für den berührendsten Moment des Abends. Jede Strophe hatte einen anderen Ton, während die letzte Strophe wurde so leise wie möglich gespielt, was herzensreissend wirkte. Vor dem Ende überraschten die Musikerinnen mit einer "Fermata", eine plötzlich lange Pause in der Musik, voller Spannung und Traurigkeit, bevor sie mit Nachdruck, nicht Resignation, aber wie eine Mahnung die letzte Strophe sangen, die in uns noch lange nachklang: "wie ist die Welt so stille".


Wiegala, wiegala, weier
Der Wind spielt auf der Leier
Er spielt so süß im grünen Ried
Die Nachtigall, die singt ihr Lied
Wiegala, wiegala, weier
Der Wind spielt auf der Leier

Wiegala, wiegala, werne
Der Mond ist die Laterne
Er steht am dunklen Himmelszelt
Und schaut hernieder auf die Welt
Wiegala, wiеgala, werne
Der Mond ist diе Lanterne

Wiegala, wiegala, wille
Wie ist die Welt so stille!
Es stört kein Laut die süße Ruh
Schlaf, mein Kindchen, schlaf auch du
Wiegala, wiegala, wille
Wie ist die Welt so stille!

Ich kann nur hoffen, dass diese Lesung und dieser Abend aufgezeichnet und online in die entlegensten Winkel der Welt übertragen werden, damit die Stimme der liebevollen Dichterin überall zu hören ist – in Afrika, Asien, Amerika, Russland und Ukraine, dem Nahen Osten und Europa.


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In einem Gespräch nach dem Konzert erklärte die Sängerin, dass sie das Lied besonders liebe. Eine ganze Welt von Gedanken und Emotionen entfalte sich in dieser kleinen Musikform. Und das Lied sei Balsam für die Stimme und den Geist für sie als Opernsängerin zwischen den Opernaufführungen. Sie würde gerne noch viele weitere Liederabende singen, doch das Publikumsinteresse daran ist in letzter Zeit nicht so groß, findet sie. Tatsächlich besuchten selbst diese Veranstaltung nur etwa 40 Menschen, viel zu wenige. Wie lässt sich das erklären, wenn nicht durch die zunehmende Unkenntnis der Menschen: Immer weniger Menschen kümmern sich um ihr kulturelles Bewusstsein, sich über die politische Lage, die Werte der Zivilisation, Poesie und Geschichte zu informieren – all das, was uns zu guten Bürgern und Menschen macht. Diese Kultur sorgt, dass sich die Geschichte nicht wiederholt und wir nicht die Kräfte in unserer Umgebung stärken, die Zerstörung und Böses anrichten, sondern das Gegenteil. Wir brauchen Musik, Poesie, Spiritualität, das Lernen über Geschichte, den erneuten Kontakt zu der Lichtgestalten aus der Vergangenheit – wir brauchen die Stimmen dieser "Propheten", damit sich die Geschichte nicht wiederholt. Und es sind die Kulturmanager unserer Zeit, die dafür eine große Verantwortung tragen. Solche Veranstaltungen sollten besser beworben werden, vielleicht sollten Schulen, Vereine und Gruppen gezielt eingeladen werden. Sponsoren sollten dafür sorgen, dass sie kostenlos sind.

Leider aber haben die Veranstalter nicht für genügende Werbung gesorgt, und auch für ein Programm. Ohne Programm, wo man die Liedtexte und die Geschichte von Ilse Weber und die Biografien der Künstler lesen könnte, mussten wir nach Hause gehen. Später konnten wir unseren Freunden leider nichts zeigen. Für mich ist die Dokumentation von solchen Ereignissen sehr wichtig.


Deshalb halte ich digitale Formate, wie Filme auf Youtube heute für eine gute Lösung, um Stimmen wie Isle Weber nachhaltig bekannt zu machen.


Herr Wurthenow könnte vielleicht mit EDA auf einen Podcast auf YouTube umsteigen und sein schönes Talent eines vielwissenden und sensiblen Erzählers nutzen, um diese besonderen Geschichten (mit Musikbegleitung) vor einem Weltpublikum zu verbreiten. Es gibt heutzutage so viel Unsinn im Internet, so viel Lärm und Leere. Wir brauchen mehr Schönheit, mehr Licht und vor allem viele kleine digitale "Stolpersteine" für diese vergessene Künstler. Menschen wie Herr Rathenow, Katarzyna Wasiak und Ania Vegry können diese Aufgabe wie keine Andere erfüllen.


Ich hoffe, dass auch ich mit dieser digitalen Erzählung einen kleinen "Stolperstein" für Ilse Weber gelegt habe.


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