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Zwischen Expressivität und Meditation: zum Rezital von Simonas Poška.

Aktualisiert: 31. Mai

Simonas Poška stammt aus einer Künstlerfamilie. Sein Vater ist ein bekannter Maler, seine Mutter Schauspielerin. Wahrscheinlich erbte das Kind den Geist von Künstlern und Theaterleuten und wurde gefördert in einem liebevollen Umfeld. Schon in jungen Jahren trat er als Kinderschauspieler im Fernsehen vor der Kamera auf und lieh Filmen seine Stimme. Bis er eines Tages den Flügel entdeckte.


Das Klavier ist ein Instrument, das Künstlerseelen auf der ganzen Welt seit Jahrhunderten fasziniert. Zahlreiche Filme und literarische Werke erzählen von der übernatürlich starken menschlichen Liebe zu diesem Instrument. In „Das Piano“ von Jane Campion findet die stumme Protagonistin Ada McGrath in einem Flügel das Instrument, mit dem sie sich im Neuseeland des 19. Jahrhunderts, fernab der Zivilisation, ausdrücken kann. In „Der Pianist“ von Roman Polanski verdankt der Protagonist Władysław Spielmann sein Überleben angesichts eines unmenschlichen Totalitarismus, Verfolgung und Krieges diesem Instrument und der Musik. Das Klavier, diese große, laute Harfe mit ihrem reichen, brillanten Klang, die mit zwei Händen tiefe Harmonien, sowohl laut als auch leise (Fortepiano), vermitteln kann, komplexe und geheimnisvolle Botschaften, als wären sie nicht nur Melodien, sondern auch Gedichte oder Gemälde, dramatisch wie ein Schrei, aber auch lyrisch wie ein Gebet, in der Lage, Naturgeräusche wie Vogelgezwitscher oder das Rascheln eines Waldes zu imitieren. Dieses Instrument bietet ein kraftvolles Instrument für den Ausdruck einer sensiblen Seele und eines sensiblen Geistes. Es ist kein Wunder, dass es außer vielleicht Wagner keinen einzigen Komponisten gibt, der nicht Meisterwerke für dieses Instrument geschrieben hat, für die Ewigkeit.


Koncert in MUZA, Hall of Nowogrodziec (Poland), XVII Festival "Muzyka u Johanna I. Schnabla" 23.5.2025. Copyright: Gminne Centrum Ochrony Kultury i Sportu w Nowogrodcu 2025.
Koncert in MUZA, Hall of Nowogrodziec (Poland), XVII Festival "Muzyka u Johanna I. Schnabla" 23.5.2025. Copyright: Gminne Centrum Ochrony Kultury i Sportu w Nowogrodcu 2025.

Eines Tages entdeckt der junge Mann in Vilnius dieses Instrument und weiß genau, was er sein Leben widmen möchte: der Kommunikation mit seinem Klavier. Es ist eine bewusste, tiefgreifende Entscheidung. Nicht, weil er Karriere machen, Geld verdienen, um die Welt touren und den herausragenden Status von Stars wie Lang Lang, Plattenlabels, Interviews in den besten Zeitungen, Verträge und einflussreiche Agenten genießen möchte. Er tut es, um sich mit der Literatur der großen Meister von damals bis heute auseinanderzusetzen oder um, genau wie die Meister vor ihm, mit diesem Instrument philosophische Reisen durch Zeit und Raum zu unternehmen. Und um alles, was er entdeckt – seine menschlichen Emotionen und spirituellen Erkenntnisse, seinen Überschwang und seine Meditationen – mit einem Publikum zu teilen, egal wo: an einer Universität, in einem Salon, in einem Konzertsaal, für seine Freunde oder den französischen Präsidenten.


Die demütige Ehrlichkeit des Künstlers ist unmittelbar spürbar, vom ersten Moment an, in dem Simonas eine Bühne oder einen Raum betritt, bis zu seinem letzten Abschied: Zuhörer und Zuschauer werden mitgenommen auf eine Reise, die weit mehr ist als ein bloßes Klavierkonzert: Es ist ein Eintauchen in geheimnisvolle Welten jenseits von Zeit und Raum, die andere Komponisten vor ihm erforscht haben und die er nun wieder betritt und vermittelt. Tiefe Teile der Seele des Zuschauers werden berührt, und er sitzt stundenlang wie gebannt auf seinem Sitz und vergisst die Zeit. Ob jung oder alt, Politiker oder Arbeiter, sie hören zu, denken oder fühlen, leiden oder freuen sich, und das lässt keine Minute nach, bis das Konzert endet oder vielleicht sogar danach.

Simonas spricht manchmal von „Katharsis“, wenn er seinen Zuhörern die Werke erklärt. Es ist ein Begriff aus dem antiken griechischen Theater, der Kunst seiner Mutter. Für die Griechen waren Schauspieler wie Priester; das Amphitheater war der Tempel des Gottes Dionysos, der für Wein, Befreiung und Erneuerung stand. Ein Amphitheater steht neben dem Apollontempel in Delphi und neben dem Tempel des Gesundheitsgottes Asklepios in Epidauros. Für die Griechen war die Katharsis jener geheimnisvolle Moment am Ende einer Tragödie, in dem der Zuschauer „gereinigt“ wird – sein Geist wird erleuchtet, er erkennt eine verborgene Wahrheit über sich selbst und die Welt und wird geheilt.


Regungslos, wie in stiller Andacht, als sähe man einer Tragödie in Epidauros zu, lauschte ein deutsch-polnisches Publikum am 21. Mai 2025 im Salon in der Augustastraße in Görlitz und am 23. Mai 2025 im großen Saal „Muza“ in Nowogrodziec im Rahmen des Festivals „Musik mit Joseph Ignaz Schnabel“ fast zwei Stunden lang Simona Poška. Zeit schien keine Rolle mehr zu spielen. Es konnte 30 Minuten oder 3 Stunden dauern; mit offenem Herzen folgten die Zuhörer/Zuschauer der Erzählung einer wohldurchdachten musikalischen Geschichte, und keiner schien auf die Uhr zu blicken. Begeistert verließen sie den Salon und baten um eine Aufnahme (die der Verein Ars Augusta für jedes Konzert vorbereitet) als Andenken. In Polen bedankte sich das großzügige, gefühlvolle slawische Publikum mit anhaltendem Applaus für die vermittelten Emotionen. Nicht nur nach dem Programm, das von einer Beethoven-Sonate zu Liszts Dante-Sonate führte, sondern auch nach der Zugabe, einer versöhnlichen Liszt-Trost, standen alle wieder dankbar zusammen in Standing Ovations. Der Moderator des Abends, der ebenso geistreiche wie vielseitig begabte Musikwissenschaftler, Musiker und Maler Mariusz Urban, verabschiedete sich mit den treffenden Worten: „Die Consolation (polnisch: pociecha, deutsch: Trost) war genau der richtige Abschluss; sonst hätte ich nicht schlafen können.“


Doch was war es an dem Programm, das der Künstler in Zusammenarbeit mit der künstlerischen Leiterin des Festivals erarbeitet hatte, das das Publikum so beeindruckte? Wie Mariusz Urban sagte, begann es mit einer „Sonata quasi una Fantasia“ von Beethoven (Nr. 13, op. 27) und endete mit einer „Fantasia quasi una sonata“ von Franz Liszt („Apres une lecture de Dante“ aus den „Années de Pèlerinage“). Dazwischen gab es viel Fantasie und Struktur, apollinische Lyrik und dionisisches Pathos: zwei Nocturnes, op. 27, und das Scherzo Nr. 1 von Chopin mit dem Wiegenlied im Mittelteil, zwei Konzertetüden, op. 1 von Liszt, und zwei Stücke aus den „Années de Pèlerinage“, Franz Liszts „Pilgerjahren“. Mariusz Urban nannte diesen Zyklus von Franz Liszt eine „Suite“. Es handelt sich um Meditationen über Orte und spirituelle Figuren in Europa, wie Genf und Rom, wie Dante und Wilhelm Tell. Mit künstlerischem Feingefühl gab Herr Urban dem Konzert den treffenden Titel „Zwischen Ausdruckskraft und Meditation“, und genau darum ging es in diesem Konzert: den Gefühlen der menschlichen Seele oder Bildern Ausdruck zu verleihen und über das menschliche Drama zu meditieren. All dies setzte der Musiker und Schauspieler am Yamaha-Flügel im Saal „Muza“ so perfekt um, dass man am Ende nicht schlafen konnte, wenn nicht die Consolation Nr. 3 dem Zuhörer Trost und Hoffnung versprach. Diese Hoffnung hat die künstlerische Leiterin des Festivals als roten Faden für das diesjährige Festival ausgerufen. In ihrem Grußwort im Programm zur 17. Ausgabe des Festivals, die mit diesem Konzert offiziell eröffnet wurde, schrieb sie über das Wallfahrtsjahr 2025, das die katholische Welt unter dem Motto „Pilger der Hoffnung“ feiert. Wir erleben derzeit dunkle, dramatische Zeiten in Europa. Wir brauchen Hoffnung, und kulturell aktive Pilger können sie uns geben.


Copyright: Gminne Centrum Ochrony Kultury i Sportu w Nowogrodcu 2025.
Copyright: Gminne Centrum Ochrony Kultury i Sportu w Nowogrodcu 2025.

Simonas Poška begann mit Beethovens Fantasie (Sonata quasi una fantasia). Elegant beschwor er Beethovens klassischen Geist, der mit langsamen und schnelleren Abschnitten den revolutionären Geist in Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts zum Ausdruck brachte. Doch nach Beethoven kam die Romantik, und Komponisten wie Chopin und Liszt verließen die Ordnung der klassischen Musik. Trauer und Traum hallten in Chopins Nocturnes wider. Immer noch elegant, verstand es der Künstler, Beethovens Geist weiterhin zu ehren, ohne jedoch das Drama zu früh heraufzubeschwören. Erst am Ende des ersten Konzertteils kam der Geist der Revolution endgültig im Scherzo Nr. 1 zum Vorschein: ein ungezügeltes, schnelles Tempo für den ersten Teil, unbarmherzig laute Akkorde wie der Schrei des polnischen Komponisten, der in Paris an das traurige Schicksal seiner besetzten Heimat erinnerte und in dem wunderschönen Weihnachtslied „Schlaf, kleines Jesulein“ (Lulaze Jezuniu) über die Traditionen und den Geist seines Volkes meditierte. In seiner Beschreibung zitierte Mariusz Urban Passagen aus einem Brief, den der Komponist in Paris schrieb: Darin beklagte er, wie er in seinem Zimmer und seinem Instrument Zuflucht vor der oberflächlichen Pariser Gesellschaft fand und seinen wahren Gefühlen und seinem Heimweh freien Lauf ließ.


Doch nach der revolutionären Romantik des Scherzos Nr. 1 fand der Künstler zu dem Komponisten, mit dem er sich vermutlich geistig verbunden fühlt: Franz Liszt. Dieser Komponist findet immer wieder Eingang in seine Konzerte, und mit seiner Musik hat Simonas mehrere Preise bei Wettbewerben gewonnen. Der leidenschaftliche Ungar, der als Konzertpianist durch Europa reiste und sein Leben als Priester beendete, ist vielleicht ein Seelenverwandter für Simonas Poška. Er hatte sogar die Rolle des Franz Liszt im Projekt „Wanderer“ von Ars Augusta gespielt, dort getanzt und geschauspielert, und mit „Valee d'Obermann“ beschrieb er Caspar David Friedrichs berühmtes Gemälde „Der Wanderer am Nebelmeer“. Das Stück war damals seine eigene Wahl.

Der Künstler kuratiert seine Programme sorgfältig, denn er hat ein Gespür für Dramaturgie und weiß, dass jeder Ort und jede Zeit ein besonderes Programm verdient. Beim Konzert in Nowogrodziec präsentierte der 23-Jährige eine weitere Premiere seines Repertoires: „Les cloches de Geneve“ und „Apres une lecture de Dante“. Mariusz Urban erklärte, dass „Cloches de Geneve“ mit einem Zitat von Lord Byron verknüpft sei. Der große Dichter war, wie viele andere Künstler seiner Zeit, ein Pilger nach Genf. Genf ist der Geburtsort von Jean-Jacques Rousseau, und auch Voltaire lebte lange Zeit in der Nähe von Genf. Die Romantiker pilgerten nach Genf, um die Philosophen der Aufklärung zu ehren, denn die Aufklärung war, genau wie das Christentum, ein Meilenstein der europäischen Geschichte. In „Die Glocken von Genf“ lässt uns Franz Liszt ein musikalisches Bild erleben: Wir sehen den dionysischen Dichter des „Don Juan“, der meditiert und dem morgendlichen Läuten der Kirchenglocken auf der anderen Seite des Sees lauscht. „Ich lebe nicht in mir selbst, sondern werde Teil dessen, was mich umgibt.“ Der von Dämonen gequälte Dichter, der auf seiner Pilgerreise Heilung für seine Seele suchte, verstand in Genf, dass der Schlüssel in der Befreiung vom Ego und der Hingabe an ein Universum jenseits des Selbst liegt. Simonas spielte dieses Stück wunderbar langsam, gefühlvoll und fast wie ein Maler oder Fotograf. Selbst die schwierige, trockene Akustik des Raumes stellte kein Hindernis dar: Selbst auf dem letzten Platz im Saal waren die wohlgemalten Melodien, laut und leise, dunkle Schatten und leuchtende Lichter, deutlich zu erkennen. Das Frasegio war perfekt. Welch großartige Musikalität und welches Gespür für die Mathematik des Klangs dieser junge Mann besitzt!


Alle Die „Reise“ gipfelte in der „Dante-Sonate“. Das 20-minütige Werk, das leider nicht die Bekanntheit erlangte, die es verdient, erzählt ein beispielloses menschliches Drama, inspiriert von Dantes Göttlicher Komödie und seiner Reise von der Hölle ins Paradies und zurück zur Erde. Werke mit tiefer philosophischer Bedeutung können nicht oft aufgeführt werden; es bedarf Philosophen-Künstler wie Simonas, um sie zu entschlüsseln. Ohne eingehende Auseinandersetzung bleibt diese Musik oberflächlich und kann sich nicht wirklich entfalten. Sie wirkt langweilig. Doch sie ist ein Universum für sich. Mariusz Urban konnte dies perfekt in Worte fassen, bevor Simonas es mit seiner Musik bestätigte. Die Akkorde von „Diabolus in Musica“ leiten Dantes Reise durch die Hölle ein. Das wiederholte Wechselspiel zwischen höllischem Drama, Auferstehungsposaunen, Hoffnung, Beatrice und den Harmonien des Paradieses, bis alles in einem immer stärker werdenden Kampf zwischen Hölle und Paradies gipfelt, in der Seele Dantes oder Hugos (dessen Gedicht „Apres une lecture de Dante“ Liszts Werk inspirierte), mit einer triumphalen Integration teuflischer Akkorde (der Schattenseite) mit himmlischen Harmonien (dem höheren Selbst). Katharsis.


All diese Gedanken wären nicht möglich gewesen ohne diesen zarten, kindlichen Mann mit seiner unglaublichen Kraft, Großzügigkeit, seinem Selbstvertrauen und Mut. Aber auch seiner Bescheidenheit, denn er wollte nicht eine Minute lang beeindrucken, sondern aufrichtig geben.

Er sparte keine Emotionen. Unter dem kraftvollen Anschlag konnte eine Taste des Yamaha-Flügels dem Druck nicht durchhalten. Auch Liszt war dafür bekannt, beim Spielen Klaviersaiten zu reißen. Das Publikum war sogar enttäuscht, wenn er keine davon zerstörte. Sicherlich war auch Liszt wie Simonas in der Lage, ein kaum hörbares Pianissimo zu erreichen. Dämonisch und engelhaft, Forte und Piano – ein perfekter Kreis schloss sich; das Konzert war ein Erfolg.


Als Zugabe möchte ich noch etwas über diesen Künstler schreiben. Er ist nicht nur Musiker. Er ist auch Schauspieler. Wenn er Konzerte gibt, kann man ihn wie einen großen Schauspieler Monologe am Klavier rezitieren sehen. Er schauspielt gern, aber Simonas Poska hat sich letztendlich für die Musik als seine Sprache entschieden, nicht für das Theater. Er weiß, dass Musik, nicht das Theater – die Harmonien Messiaens, die Gemälde Debussys und Ravels, die Philosophie in Liszts Musik – größere Kraft hat und eine universellere Sprache spricht. Damit möchte er diese Welt prägen.


Hoffentlich wird der junge Litauer die Möglichkeit haben, diese Spuren überall zu hinterlassen: in einem Haus mit Klavier, auf einem Dorfplatz oder in einem riesigen Konzertsaal einer Metropole. Es wäre wünschenswert, wenn dieser musikalische Pilger jeden Raum mit seinem Spiel, seinen Emotionen und Meditationen erfüllen und die Welt ausgeglichener und friedlicher machen würde als zuvor.


Copyright: Gminne Centrum Ochrony Kultury i Sportu w Nowogrodcu 2025.
Copyright: Gminne Centrum Ochrony Kultury i Sportu w Nowogrodcu 2025.

 
 
 

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